Krisen, Kriege, Koalitionsbruch: Zwischen dem permanenten Verfolgen negativer Nachrichten und dem völligen Verzicht fällt es momentan nicht leicht, den Optimismus zu bewahren. Das aber sei gerade jetzt wichtig, findet Andreas Müller, Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein. Nostalgische Rückblicke helfen nicht
Von Jan Schäfer
GOSENBACH. „Früher war alles besser.“ Simple Formeln wie diese haben Hochkonjunktur in unserer heutigen Zeit, können mitunter Wahlen „gewinnen“ – ob sie nun zutreffend sind oder nicht. Auch Andreas Müller, Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein, erwischt sich zuweilen dabei, diesen Satz zu denken oder gar zu sagen. Aber ist das wirklich angebracht?
Der vergleichende Blick auf Vergangenheit und Gegenwart müsste sehr viel differenzierter ausfallen, so gibt Müller in seiner Ansprache zum Volkstrauertag auf der Kreisehrengedenkstätte in Gosenbach zu verstehen. Denn: „Fast alle Deutschen, die heute leben, gehören Generationen an, die weitgehend von direkter Kriegs- oder bewaffneten Krisenerfahrungen verschont geblieben sind.“ Mit unserem Alltag habe Krieg nur wenig zu tun gehabt.
Das Gefühl von Stabilität und Sicherheit indes sei in den vergangenen Jahren erschüttert worden von globalen Krisen. „Klimawandel, geopolitische Spannungen, soziale und wirtschaftliche Unsicherheiten, ein Krieg an der Ostgrenze der Europäischen Union: der russische Überfall auf die Ukraine.” Und ganz aktuell auch noch der Ausgang der US-Wahlen und das Aus der Regierung in Berlin. „Die Diskrepanz zwischen dem, was wir jahrzehntelang als Normalzustand verinnerlicht haben, und den Erfahrungen und Herausforderungen von heute könnte kaum größer sein“, so der Landrat. Dieses Gefühl werde durch den permanenten Nachrichtenfluss, dem wir ausgesetzt seien, noch befördert. Probleme, die es auch früher gegeben habe, kämen heute weniger dosiert in der breiten Masse an, würden uns ständig vor Augen geführt.
Früher sei der Alltag mehr geprägt gewesen von lokalen, vertrauten Themen im eigenen Umfeld. „Um einen direkt herum sind Krisenmeldungen zum Glück deutlich seltener, als wenn man sich das ganze Leid der Menschheit auf sein Handy holt“, sagt Müller. „Egal, ob Tagesschau oder Tageszeitung: Immer mehr Menschen fühlen sich hilflos.” Es gäbe schlechte Nachrichten, bevor man ins Bett gehe und wieder neue schlechte Nachrichten, wenn man aufstehe. „Doomscrolling“, das permanente Verfolgen negativer und beunruhigender Inhalte, gefährde die psychische Gesundheit, löse Ängste und Beklemmungen aus. Als Gegentrend dazu gebe es die Nachrichten-Askese, der völlige Verzicht auf Nachrichten.
Aber sei früher tatsächlich alles besser gewesen? „Das hängt vom Zeitraum ab, auf den man zurückblickt.“ Wer am Ende des Zweiten Weltkriegs 80 Jahre alt gewesen sei, der habe diesen Satz wohl niemals gesagt. Wer heute 80 Jahre alt sei, der sei in den letzten Monaten des Kriegs geboren und habe anschließend nur Friedenszeiten erlebt - da könne man in einer Zeit voller internationaler Krisen tatsächlich schnell den Eindruck gewinnen, früher sei alles besser gewesen. „Statt nostalgisch zurückzublicken, sollten wir den Blick nach vorn richten und alles dafür tun, dass auch die Zukunft friedvoll und lebenswert bleibt“, appellierte Müller. Optimismus zu behalten, sei derzeit keine leichte Aufgabe, aber es lohne sich, diese anzupacken. Auch Elisabeth Dangendorf, Maria Trautes und Elsa Graumann, Oberstufenschülerinnen des Siegener Löhrtor-Gymnasiums, gemahnen in ihrem Redebeitrag, einen hoffnungsvollen Blick in die Zukunft nicht zu verlieren. Sorgenvoll blicken sie auf Gewaltbereitschaft, Hass und Spaltung, mit denen rechtsextreme Kräfte „an den Grundfesten unserer Demokratie und somit unseres täglichen Lebens rütteln“.
Dies müsse gestoppt werden, damit sich die Geschichte nicht wiederhole und Demokratie für uns so selbstverständlich bleibe, wie sie gerade sei. „Wir haben die Wahl: Es liegt in unserer Macht, ob wir Hass und Ausgrenzung Raum geben oder ob wir für eine Gesellschaft einstehen, in der Werte wie Frieden, Respekt und Mitmenschlichkeit das Fundament unseres Handelns sind.”
„Die Herausforderungen unserer Zeit sind groß“, betonen die Schülerinnen. „Aber die Möglichkeiten, gemeinsame Lösungen zu finden, sind es auch.”