GOSENBACH Der Volkstrauertag steht 2022 im Zeichen des Ukraine-Kriegs / Schüler formulieren ihre Ängste und Sorgen

Mit Pazifismus ist es nicht getan, bedauert Landrat Andreas Müller.

js ◼ „Unbegreiflich, wie Machthaber ihr eigenes Volk in den Krieg schicken konnten, um sich auf Leben und Tod zu bekämpfen.“ Oskar Uebach, Schüler des Gymnasiums am Löhrtor in Siegen, erinnert sich daran, wie er noch bis Februar dieses Jahres über das Thema Krieg gedacht hat - aus scheinbar sicherer Entfernung, zeitlich und geografisch. Der Moment, an dem die russischen Truppen jedoch in die Ukraine einmarschiert sind, sei ihm zunächst unwirklich erschienen. „Der Gedanke, dass es im 21. Jahrhundert ein Krieg in Europa gibt, ließ mich fassungslos und ungläubig zurück.“ Der Krieg, so musste er erkennen, ist nicht so fern wie bislang angenommen. „Muss ich die Zukunft fürchten?”, fragt sich Oskar. „Wir es je wieder Frieden geben?“ Eine Antwort wird er nicht bekommen an diesem Sonntagvormittag, an dem er und einige Mitschüler ihre Gedanken zum Volkstrauertag formulieren und noch weitere Fragen aufwerfen.

„Wir leben in unsicheren Zeiten”, bedauert auch Andreas Müller, Landrat des Kreises Siegen-Wittgenstein und Kreisvorsitzender des Volksbunds Deutsche Kriegsgräberfürsorge (VdK), in seiner Ansprache an der Kreisehrengedenkstätte in Gosenbach. Dort findet alljährlich die zentrale Gedenkveranstaltung von Kreis und VdK statt, diesmal mit besonders aktuellen Bezügen. „Der Volkstrauertag 2022 findet ohne Zweifel im schwierigsten Umfeld seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs statt.“ Viele Gewissheiten seien ins Wanken geraten. „Vermeintlich fester Grund trägt nicht mehr“. Die Schritte, die wir gehen müssten, sollten sorgfältig abgewogen sein. „Doch was das Morgen bringen wird, weiß keiner von uns.” Am Ende gelte es ein Ziel weiter im Blick zu haben: „Frieden und Freiheit bewahren - nie wieder Krieg!“

Andreas Müller umreißt die Folgen des Angriffskriegs auf die Ukraine, die dem alljährlichen Gedenken des Volkstrauertags diesmal eine besonders aktuelle Bedeutung geben. „Es geht um eine Frage, die seit 1945 quasi Staatsdoktrin war: Deutschland hält sich aus bewaffneten Konflikten heraus.“ Wir lieferten keine Waffen, versuchten, neutral zu bleiben, um als ehrlicher Vermittler aufzutreten. „Über viele Jahrzehnte hat das gut funktioniert.“ Pazifismus sei unausgesprochen mehr oder weniger Konsens gewesen. „Das hat sich seit Februar grundlegend geändert.“ Aufrüstung, lange Zeit ein Tabu, scheine nun das Gebot der Stunde, so sagt Müller mit Blick auf Umfragen, die die Sorgen der Deutschen vor einer Ausweitung des Krieges offenbaren.

„Nie wieder Krieg“ - das sei die zentrale Lehre für die Überlebenden des Zweiten Weltkriegs gewesen. Nie wieder Bombenterror, nie wieder millionenfaches Leid. „Doch heute merken wir: Das ist nicht so einfach.” Heraushalten aus dem Krieg, so Müller, das gehe nicht. „Es ist naiv anzunehmen, dass sich Probleme durch Nichtstun wie von Geisterhand von selbst lösen.“ Wer sich nicht die Hände schmutzig machen wolle und deshalb beispielsweise Waffenlieferungen an die Ukraine ablehne, müsse sich im Klaren sein, dass auch das Folgen haben werde, für die man verantwortlich sei. „Unterlassene Hilfeleistung kann zum Tode führen”, warnt Müller. „Die historische Verantwortung Deutschlands besteht auch darin, nie wieder gleichgültig gegenüber den Opfern von Krieg und Gewalt zu sein.“ Daher böten wir Menschen aus der Ukraine Schutz und Zuflucht, unterstützen das Land aber auch mit Waffen, „um die Menschen dort in ihrem Kampf für Freiheit, Würde, Demokratie und Unabhängigkeit zu unterstützen”.

„Gibt es überhaupt noch Frieden?“ Löhrtor-Gymnasiastin Franziska Kollmann wirft diese offene Frage auf in ihren Gedanken. Warum Menschenleben in sinnlosen kriegerischen Auseinandersetzungen sterben mussten und müssen, früher ebenso wie heute - das habe sie nie begreifen können. „Ich ertappe mich oft dabei, die zahlreichen Probleme dieser Welt zu ignorieren.“ Das helfe, besser schlafen, sich in der Schule besser konzentrieren zu können. Sie habe aber das Gefühl, dass Kriege, Konflikte und Menschenrechtsverletzungen zur Routine würden in unserer Welt. „Ich habe Angst, dass wir anscheinend zu wenig aus der Geschichte gelernt haben.“

Aus gemeinsamer Trauer Kraft zu schöpfen, um aufzustehen gegen Krieg, Gewalt und Zerstörung - dazu rief ihre Mitschülerin Greta Paulsen auf. „Ja, es gibt Frieden.“ Er sei da, wo Gewalt und Krieg fern seien, so sich Menschen dazu entschieden, aufeinander zuzugehen und den Wert des anderen anzuerkennen, sich trauten, ihre Differenzen in den Hintergrund zu stellen. „Somit beginnt der Frieden bei jedem Einzelnen, ganz persönlich.“